Die Kanzlerkandidatin der Grünen hat ein Buch geschrieben. Die Lausitz nimmt darin ein ganzes Kapitel ein. Es liest sich wie die Kriegsgeschichte einer sehr jungen Spitzenpolitikerin.
An einem Abend im Januar saß Annalena Baerbock in Cottbus bei einem Scheunentalk mit dem Titel „Stirbt die Lausitz?“ Es ging um die Kohleindustrie, die gerade drauf und dran war, weitere Dörfer abzubaggern. Gekommen waren Menschen, die Haus und Hof verteidigten, und andere, die ihren Arbeitsplatz im Tagebau nicht preisgeben wollten. Der Moderator schien am Thema wenig interessiert, befragte die junge Grünen-Politikerin über ihr Leben als Frau in der Politik. Die Diskussion sei wenig sachlich verlaufen, die Mehrheit auf dem Podium bestritt den Beitrag des Menschen beim Klimawandel. So wurde der Abend für Baerbock erwartbar ungemütlich. Bis ein Mitarbeiter der Leag aus dem Publikum aufstand und sagte, er könne sie gut verstehen und er sehe auch ein, dass es mit der Kohle nicht ewig weitergehen könne.
Tief im Osten hat die Kanzlerkandidatin der Grünen prägende politische Erfahrungen gemacht. So widmet sie in ihrem Buch, das in den nächsten Tagen erscheint, der Lausitz ein ganzes Kapitel. Auf 15 Seiten beschreibt sie, wie das war als Politikerin mit Mitte 20 in Brandenburg, die sich der Rettung des Klimas verschrieben hatte und gegen eine Industrie ankämpfte, auf die die anderen Parteien nichts kommen lassen wollten. Keine andere Region kommt in ihrem Buch mit dem Titel „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“ so ausführlich weg. Warum, das schreibt sie ganz deutlich: „So wie es in den 1950er-Jahren ein mutiger politischer Schritt war, die Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auf den Weg zu bringen, ist jetzt der richtige Moment, aus dem fossilen Zeitalter auszusteigen.“ Doch dürfe die Kohle nicht den Weg früherer zerstörter Industriezweige gehen, die außer Hoffnungslosigkeit nichts zurückließen. Die ökologische Transformation müsse besser laufen, man könne sie überhaupt nur „gemeinsam mit den Beschäftigten“ meistern.
Die SPD vertrat die Arbeiter, die Linken vertraten die Zurückgelassenen. Die Grünen vertraten das Klima, und das kann nicht wählen.
Die Frau, die sich anschickt, das erste Grüne das Kanzleramt zu erobern, schlägt in ihrem Manifest einen anderen Ton an als die Landtags-Abgeordnete und Klimaaktivistin von damals. Baerbock muss versöhnen und alle Interessen würdigen. Der Kohleausstieg „mit all seinen Emotionen und Widersprüchen“ habe sie am deutlichsten geprägt. Hier habe sie „am meisten über gesellschaftliche Umbrüche und eigene Fehler gelernt“. Und trotz ihrer Fehler der letzten Wochen, die sie von der Nummer Eins in den Umfragen zur Nummer drei gemacht haben, trotz der Debatten über Nebeneinkünfte und die Schwächen ihres Lebenslaufs, machen die Seiten über die Lausitz klar, welchen Weg Baerbock und die Grünen genommen haben.
Als die junge Frau, die im Speckgürtel von Hannover aufgewachsen war, 2005 in Brandenburg mit der Politik begann, hatte der Landesverband um die 600 Mitglieder. Als Großstadt-Partei in einem Land der Kleinstädte standen die Grünen auf verlorenem Posten. Sie galten als spleenig, sektenhaft und aus dem Westen importiert. Die regierende SPD vertrat die Arbeiter, die CDU vertrat die christlichen Bürger, die Linken vertraten die Zurückgelassen – die Grünen vertraten das Klima, und das kann nicht wählen.
Der Wiedereinzug in den Landtag gelang durch heftiges Reiben am wundesten Punkt im Land: Der Braunkohle-Industrie, die man stillschweigend Dörfer verschlingen ließ, um Wohlstand und Identität tief im Osten nicht zu gefährden. Baerbock erinnert in ihrem Buch daran, dass allein in den 1990er Jahren 25 000 Menschen umgesiedelt werden mussten, damit die Tagebaue Jänschwalde und Welzow wachsen konnten. Die Grünen stellten sich an die Spitze derer, die für den Erhalt von Atterwasch, Kerkwitz und Grabko kämpften – und wurden dadurch zu einer politisch relevanten Größe. Damit ging es endlich auch um Menschen – nämlich um jene, die sich dem scheinbar Unausweichlichen entgegenstellen.
Es gab nur zwei Seiten: die Grünen und die Vernünftigen. Wer Wohlstand wollte, für den waren die hohen Einkommen bei der Leag praktisch Raison
Baerbocks Seiten über die Lausitz, in dem Buch, das sie ihrer Oma widmet und all jenen, „die gelitten haben“, lesen sich wie die Kriegsgeschichte einer 40-jährigen Frau. Die Ereignisse, die sie so emotional beschreibt, liegen noch keine Generation zurück, aber damals tickte die Welt der Lausitz noch anders. In der Draufsicht gab es im Kampf um die Kohle nur zwei Seiten: die Grünen und die Vernünftigen. Wer gegen die Kohle war, war gegen die Heimat. Wer Wohlstand in der Region wollte, für den waren die überdurchschnittlichen Einkommen der Kohlebeschäftigten eine Sache der Raison.
Inzwischen sind die Fronten aufgeweicht. Die Lausitz ist keine Kohleregion mehr, sondern Region des Strukturwandels. Der hat mehr im Blick als der Berbgau-Betreiber Leag und seine Bedürfnisse, sondern die Bedürfnisse einer Wirtschaft, die bislang im Schatten der Kohle schmorte. Die Leag stellt baut heute sogar Windräder.