Die alten Kraftwerke erringen wieder die Mehrheit im Stromnetz. Trotzdem feiert die Kohlelobby nicht. Warum nur?
Plötzlich wird die Kohle wieder wichtig. Strom aus Kohlekraftwerken ist in der ersten Hälfte des Jahres um ein Drittel angestiegen. Im ganzen Netz machte der Kohlestrom damit 27 Prozent aus. Kein anderer Energieträger konnte so viel beitragen zur Versorgung mit Strom, dessen Bedarf noch immer von Jahr zu Jahr steigt. Das Bemerkenswerte an diesen Zahlen ist, dass sie nicht aus einer Plattform von Kohlefreunden stammen, sondern vom Statistischen Bundesamt. Die oberste Zählbehörde der Republik liefert die Erklärung gleich dazu: Es war zu wenig Wind. Damit wird die Unfähigkeit der Erneuerbaren, verlässlich versorgen zu können, quasi amtlich.
Fragt sich nur, wo all die Kohlefreunde sind, um diesen Umstand zu feiern. Die fachlichen Skeptiker der Energiewende, die Dunkelflauten-Prediger, sie melden sich nicht zu Wort. Die Wiederkehr der Kohle an die Spitze der Statistik lässt die Gemüter kalt. Das ist erstaunlich, aber andererseits auch wieder nicht. Die Bergbaubetreiber haben inzwischen Besseres zu tun, als sich über einen solchen Punktsieg zu freuen. Sie sind zu sehr beschäftigt damit, aus der Kohle auszusteigen.
Wind kommt von der Nordsee, Sonne aus dem Süden und grüner Wasserstoff womöglich aus Afrika. Die Kohle aber ist eine ostdeutsche Kernkompetenz.
Der Kampf um die Zukunft der Kohle wurde in Ostdeutschland so bitter ausgetragen, weil die Kohle im Osten eben mehr ist als eine Industrie, die man sich nicht nehmen lassen will. Das Ringen um die letzte verbliebene Großindustrie bestimmte 2019 die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen, machte die AfD zur stärksten Kraft in der Lausitz. Die Konfrontation zwischen Kohlefreunden und Klimafreunden gab einen Vorgeschmack darauf, wie regionale Richtungsstreits mithilfe der sozialen Medien zu Kulturkämpfen mutieren, wenn nur genug Gift und Galle spritzen. Aber das ist lange her. Inzwischen zeigt sich, dass eine überhitzte Debatte auch schnell verrauchen kann.
Auch über die Kohleregionen von Lausitz bis Helmstedt hinaus, war für viele Ostdeutsche das Festhalten an der Kohle eine Art Raison für die eigene Wirtschaftskraft. Die DDR konnte sich mit kaum etwas selbst versorgen – aber Braunkohle im Überfluss da. Zwischen Cottbus und Halle liegt eine Menge davon. Verstrombarer Wind weht dagegen an der Nordsee. Grüner Wasserstoff wird ohne Kapazitäten aus dem Ausland, womöglich Nordafrika, nicht in Mengen herstellbar sein. Und bei der Sonnenenergie ist der Süden ohnehin im Vorteil. Das hinterließ bei vielen Ostdeutschen den Eindruck, dass auch die Erneuerbaren Energien etwas Importiertes sind. Etwas, das von außen aufgedrückt wird, weil die eigene Art, Dinge zu lösen, nicht mehr gefragt ist.
Die Kohle repräsentiert die technologische Kernkompetenz, die im Osten zuhause ist. Die scheint nun wieder gefragt, da infolge fehlenden Winds die konventionellen Energieträger wieder knappe Mehrheit im Stromnetz erringen. Aber der Eindruck täuscht: Die Energieszene tickt im Jahr 2021 anders als noch vor zwei Jahren. Vor der Bundestagswahl haben sich die Fronten im Kohlestreit aufgelöst. Selbst die Kraftwerksbetreiber haben inzwischen ihre Position gewechselt.
Ausgerechnet die Kohlebranche fordert nun mehr Tempo bei der Windkraft. Das hat den Erneuerbaren zu mehr Akzeptanz verholfen.
Der Kohleausstieg ist beschlossen. Jemand muss ihn vollziehen. Und die Kohleindustrie hat keinen Zweifel daran gelassen, dass nur sie das machen könne. Noch vor zwei Jahren entsprach es der ökonomischen Logik von Leag, Mibrag, RWE, sich den Verzicht auf das Kohlegeschäft möglichst teuer bezahlen zu lassen. Dieselbe ökonomische Logik erfordert heute, dass die Konzerne den Umstieg auf Wind und Sonne möglichst günstig bekommen. In den Mondlandschaften der Tagebaue lassen sich Windräder zu Hunderten aufstellen, ohne dass es Nachbarn stört. Aus Kohle-Monopol soll bis zum endgültigen Ausstieg 2038 ein Windkraft-Monopol werden. Ausgerechnet die Granden der alten Energiewelt machen nun massiven Druck auf die Politik, die die Planungsprozesse für das Aufstellen von Windkraftanlagen beschleunigen soll.
Diese kuriose Entwicklung hat immerhin die Erneuerbaren auch bei jenen akzeptabel gemacht, die bisher von grünem Strom wenig hielten. Selbst unter den alten Kraftwerkern macht sich die Erkenntnis breit, dass Energie ohne Bagger gewonnen werden kann. Eine Wiederkehr des Raubbaus ist nicht mehr zu vermitteln.